Urbanität. Formen der Inszenierung in Texten, Karten, Bildern

Urbanität. Formen der Inszenierung in Texten, Karten, Bildern

Organisatoren
Institut für vergleichende Städtegeschichte e. V., Münster; Martina Stercken, Universität Zürich; Ute Schneider, Universität Duisburg-Essen
Ort
Münster
Land
Deutschland
Vom - Bis
19.03.2012 - 20.03.2012
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Von
Stefan Fuchs, Historisches Seminar, Universität Zürich

"Urbanität" stand im Zentrum des 42. Frühjahrskolloquiums des Münsteraner Instituts für vergleichende Städtegeschichte e. V., das in Zusammenarbeit mit Martina Stercken und Ute Schneider veranstaltet wurde. Wie die Einleitung der beiden Veranstalterinnen herausstellte, sollte dabei weniger der schillernde Begriff im Vordergrund stehen, der seit der Antike als Chiffre für kultivierte Lebensart und Rhetorik, in der Gegenwart vor allem für verdichtete Bebauung verwendet worden ist. Vielmehr interessierten die medialen Formen und Strategien, in denen Urbanität inszeniert und Eigenarten des Urbanen akzentuiert worden sind. Dabei wurde von einem kulturgeschichtlichen Medienbegriff ausgegangen, der weniger technologische Fortschritte ins Zentrum stellt als vielmehr nach den kulturellen Bedingungen von Sinnstiftung fragt. So sollte es ermöglicht werden, auch Prozesse der Vermittlung in den Zeiten vor dem Buchdruck und den Massenmedien einzubeziehen. Mit Beiträgen aus den Bereichen Geschichte, Kunstgeschichte, Romanistik, Anglistik und Medienwissenschaft zeigte sich das Programm zeitlich und thematisch breit gefächert.

Am Beginn stand der Vortrag von INGRID BAUMGÄRTNER (Kassel), die kartographische Repräsentationen der Stadt Jerusalem aus dem 11. bis 14. Jahrhundert in den Blick nahm. Ein besonderes Augenmerk richtete sie darauf, wie Vorstellungen des Himmlischen Jerusalem, die den Stadtraum ideal-schematisch als Kreis oder als Quadrat innerhalb der vier Türme der Apokalypse imaginierten, durch Berichte vom ‚wirklichen’ Jerusalem nach der Eroberung durch die Kreuzfahrer (1099) modifiziert wurden. Sie zeigte, dass das kartographische Jerusalem nach der Eroberung zwar auch zur realen Stadt wurde, dieser gleichzeitig aber immer eine zentrale Position innerhalb der symbolischen Ordnung des christlich-heilsgeschichtlichen Weltbildes zugewiesen wurde.

GERHARD FOUQUET (Kiel) untersuchte Stadtansichten aus dem römisch-deutschen Reich des Spätmittelalters und der Frühneuzeit, darunter den Nürnberger Waldplan (1516) oder die Augsburger Monatsbilder von 1530/31. Er betonte, dass diese der Idee der ‚schönen Stadt‘ Ausdruck verliehen, die auch in anderen Genres zur Darstellung kam, so insbesondere in der literarischen Stadtbeschreibung und im Städtelob. Mit der 'schönen Stadt’, die ihren Ausdruck in den öffentlichen Bauten und Einrichtungen einer spätmittelalterlichen inneren Urbanisierung finden, werde der ‚Gemeine Nutzen’ und damit das gute Regiment der stadtbürgerlichen Elite ins Bild gesetzt.

Auf eine Diskursgeschichte des Urbanen zielte BIRGIT STUDT (Freiburg im Breisgau) ab, die ein Projekt zur Chronistik in den drei südwestdeutschen Bischofsstädten Straßburg, Konstanz und Basel zwischen 1300 und 1550 vorstellte. So fragte sie danach, wie man sich im Medium historiographischer Texte über politisches Handeln und städtische Werte verständigte. Diese seien nicht nur gehütetes Erfahrungswissen der städtischen Elite gewesen, sondern hätten auch als Orientierungswissen breiterer Schichten gedient. Als ‚Gewissen’ oder ‚Gedächtnis’ einer Stadt sei die Geschichtsschreibung ein Indikator und Katalysator gesellschaftlicher Differenzierungsprozesse.

‚Wie schafft sich eine Stadt ein Image?’, fragte PETER JOHANEK (Münster). Dabei ging es ihm zum einen um Individualitätsmarker (wie etwa den Kölner Dom), die in der gebauten Stadt, aber auch in deren bildlichen und schriftlichen Imaginationen eine Rolle spielen. Zum anderen wurden Stereotype hervorgehoben, so vor allem das mittelalterliche und frühneuzeitliche Bild der ‚Stadt in Waffen’, mit dem die städtische Wehrhaftigkeit und die Bürgergemeinde als Wehrgemeinschaft in Szene gesetzt wurden. Als dritten Komplex skizzierte er am Beispiel Lemgos Formen der Inszenierung von Stadt, die besonders seit dem 19. Jahrhundert als ‚city branding’ wirksam geworden sind.

Ausgehend von Inszenierungen der Pariser Bohème im Film ging FRANK REXROTH (Göttingen) in seinem öffentlichen Abendvortrag der topischen Verbindung von Wissenschaft und Laster nach, die zum ersten Mal im 12. Jahrhundert auf der ‚mental map’ Europas erschienen sei. Die mittelalterlichen Imaginationen des Pariser Scholarenmilieus seien als Versuche zu verstehen, die Autonomisierung der Wissenschaft zum selbstreferentiellen System gedanklich fassbar zu machen. Zwar hätten heutige Bilder der Pariser Bohème nicht mehr diese Funktion, doch gebe es eine in der Fachwissenschaft des 19. und 20. Jahrhunderts konstruierte Kontinuität des Images von Paris als Bildungsmetropole.

TANJA MICHALSKY (Berlin) setzte sich anhand dreier Stadtführer zu Neapel aus dem 16. und 17. Jahrhundert mit der Art und Weise auseinander, wie der gebaute und zeitlich geschichtete Stadtraum in beschreibend-historiographische Ordnungsmodelle überführt wurde. Als wesentliches Gliederungsprinzip stellte sie die Performanz von Urbanität heraus, die sich durch die Verknüpfung erwanderter Straßen und Gebäude mit Geschichte und Personen fassen lässt. Hingegen spielte der ordnende Blick von oben insgesamt eher eine Nebenrolle.

Unter anderem am Beispiel der Fahrt zu Sonne und Mond in Cyrano de Bergeracs ‚L'autre monde’, Madeleine de Scudérys ‚Carte de tendre’ und den fiktiven Reisen der persischen Gesandten in Montesquieus ‚Lettres persanes’ zeigte CERSTIN BAUER-FUNKE (Münster), dass der Begriff der Urbanität in literarischen Texten des 17. und 18. Jahrhunderts immer mit der Kategorie der Bewegung verbunden werde. ‚Im Gehen’ würden sich die Protagonisten ein Urbanitätsmodell schaffen, wobei ‚Urbanität’ als Lebensform immer mit der Topographie der gebauten Stadt verknüpft sei.

Den Dokumentarfilm ‚When the Levees Broke’ (2006) von Spike Lee über die Folgen des Hurrikans Katrina auf New Orleans analysierte NICOLE WALLER (Würzburg). Dabei zeigte sie auf, dass die im US-amerikanischen mainstream oft anzutreffende Charakterisierung New Orleans' als einer kulturell und ethnisch ‚außerhalb’ der Vereinigten Staaten liegenden Stadt auch von Lees sympathisierender Binnensicht übernommen wird. Indem er die große Bedeutung lokaler, besonders afroamerikanischer Selbsthilfe-Strukturen in der Katastrophe im Gegensatz zu den nationalen Institutionen betone, werde New Orleans zum Ort der Verbindung lokaler und globaler Strukturen, die Nation jedoch zur Leerstelle, zum Ort des Scheiterns gemacht.

JULIKA GRIEM (Darmstadt) untersuchte die Rolle Baltimores als ‚Serienheld’ der Fernsehserie ‚The Wire’ (2002–2008), die ‚die Stadt im postindustriellen Überlebenskampf’ nicht zum Schauplatz von Einzelschicksalen, sondern als komplexes System des Ineinandergreifens von institutionellen Strukturen und individuellen Handlungsoptionen inszeniere. Diese Prämisse werde narrativ durch das Verfahren der Komplexität steigernden Kumulation erreicht, wofür sich die spezifische Serialität des amerikanischen ‚Qualitätsfernsehens’ besonders eigne. Der Sendereihe fehle allerdings jeder explizite Anknüpfungspunkt an soziologische Diskurse, während literarische Vorbilder von den Schreibern durchaus hervorgehoben würden.

Aus stadtplanerischer Perspektive befasste sich CHRISTOPH LUCHSINGER (Wien) mit Herausforderungen an Theorie und Praxis des modernen Städtebaus. Mit Fokus auf Wien ging es ihm dabei einerseits um das Postulat des Erhalts von ‚Einheitlichkeit’ in Phasen rapiden Stadtwachstums. Andererseits machte er auf die Problematik der ‚vertikalen Organisation’ der Stadt aufmerksam, die sich im 19. Jahrhundert mit dem Bau über- und unterirdischer Infrastrukturanlagen wie der Kanalisation, aber auch mit der Konstruktion einander überlagernder Bahn- sowie Straßennetze gestellt habe und heute mit dem Entstehen unerwünschter ‚Abfallräume’ diskutiert würde.

ANTONIA VON SCHÖNING (Basel) knüpfte insofern an diese Überlegungen an, als sie Prozesse der Aneignung des Untergrunds von Paris – seiner Bergwerkstollen und Abwasserkanäle – durch die städtischen Eliten im ausgehenden 18. und im 19. Jahrhundert in den Blick nahm. In drei Phasen – dem ‚Erstkontakt’ und der Entdeckung, der Ordnung und ‚Kolonisierung’ und der Eingliederung in die Fortschrittserzählung der Stadt – entwickle sich die quantifizierende Stadtdarstellung als ein neues Genre der Kartographie, das die unterirdische Kanalisation als Teil des städtischen ‚Organismus’ inszeniere und selbst als Ausdruck eines ‚gouvernementalen’ Regierungsverständnisses verstanden werden könne.

In der von MARTINA STERCKEN (Zürich) und UTE SCHNEIDER (Essen) geleiteten Schlussdiskussion wurde nochmals deutlich gemacht, dass der problematische Begriff der Urbanität sowohl im städtischen wie auch im ländlichen Kontext bis in die Gegenwart eine Chiffre für vieles gewesen sei und deshalb nur von den spezifischen Kontexten seines Gebrauchs (im Labeling, Branding, Marketing etc.) her beleuchtet werden könne. Auf diese Weise werde es nicht nur möglich, Vorstellungen des Urbanen, sondern auch Modelle ihrer Instrumentalisierung und deren Auswirkung auf das Stadtleben zu beschreiben. Im Vergleich der verschiedene Zeitstellungen fokussierenden Beiträge aus unterschiedlichen disziplinären Perspektiven wurde festgehalten, dass Urbanität nicht über einzelne Medien, sondern vielmehr in komplexen medialen Situationen vermittelt wird, und Wahrnehmungsmuster vielfach in Konkurrenzsituationen und nie ausschließlich von den bürgerlichen Eliten geprägt worden sind. Die nun anstehende Publikation der Beiträge in der Reihe „Städteforschung“ bietet die Chance, das Definitionsproblem des Begriffs Urbanität noch einmal aufzugreifen und durch die Konzentration auf Gemeinsamkeiten aller Perspektiven zu einer Schärfung der Terminologie zu gelangen.

Konferenzübersicht:

Werner Freitag (Münster): Begrüßung

Martina Stercken (Zürich), Ute Schneider (Essen): Einführung

Ingrid Baumgärtner (Kassel): Jerusalem und die Topographie des Wissens

Gerhard Fouquet (Kiel): Urbanität. Stadtbilder vom Spätmittelalter bis in die Frühe Neuzeit

Birgit Studt (Freiburg im Breisgau): Geschichtsschreibung als Gewissen der Stadt

Peter Johanek (Münster): Von Stereotypen und (feinen) Unterschieden. Wie schafft sich eine Stadt ein Image?

Frank Rexroth (Göttingen): Gefährliche Liebschaften: ‚Wissenschaft’ und ‚Laster’ in den mittelalterlichen Vorstellungen von der Bildungsmetropole Paris

Tanja Michalsky (Berlin): ‚Die Stadt im Buch’. Die Konstruktion städtischer Ordnung in frühneuzeitlichen Beschreibungen am Beispiel Neapels

Cerstin Bauer-Funke (Münster): Inszenierungen von Urbanität in französischen Texten des 17. und 18. Jahrhunderts

Nicole Waller (Würzburg): National oder Transnational? Die Inszenierung von New Orleans in Spike Lees Film ‚When the Levees Broke’

Julika Griem (Darmstadt): Baltimore als Serienheld: ‚The Wire’ als multimediales Epos

Christoph Luchsinger (Wien): Die Stadt im Schnitt. Infrastrukturen und ihre Bedeutung für Verständnis und Abbild der Stadt

Antonia von Schöning (Basel): Die Erfindung des Pariser Untergrunds. Kartographische Entdeckung, Ordnung und Geschichtsschreibung der Kehrseite der Stadt im 19. Jahrhundert

Martina Stercken (Zürich), Ute Schneider (Essen): Schlussdiskussion


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